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Oktober 2023

Am Abgrund, 1977, Öl auf Leinwand, 100 x 80,8 cm.

In den 1970er Jahren entstand eine Reihe von Gemälden, in denen Eberhard Schlotter bewusst mit immer gleichen Versatzstücken vermeintlicher Realität surreale Gemälde schuf. Dies sind vor allem scheinbare Löcher im Boden bzw. in der Leinwand, eine Gruppe gagelig hoch aufragender Bäumchen und Frauen, die sich aus unerklärlichen Gründen ganz allein in einer leeren Landschaft befinden. Jedes einzelne dieser Bilder mutet an wie die Darstellung eines Traumes, ist zunächst unverständlich und scheinbar geheimnisvoll. Doch die Häufung der einzelnen Elemente in so vielen anderen Bildern derselben Zeit legt die Vermutung nahe, dass jedes dieser Elemente (zumindest für Schlotter) eine tiefere Bedeutung hat und erst ihre Zusammenstellung eine Möglichkeit zur Erklärung bietet.

Die wüstenhafte leere Landschaft, in der sich die Frau befindet, wirkt wegen der verkümmerten Bäume besonders bedrückend. Nichtsdestotrotz ist die Dame schick gekleidet in Minikleid und Blazer mit Handtasche und Sonnenbrille. Sie wirkt völlig deplatziert, wie aus einer anderen Szene hierher verfrachtet. Da die Landschaft ebenso weit und groß wie leer ist, wirkt die Frau besonders klein und verloren. Was jedoch vollends verwirrend erscheint, ist ein bizarrer Riss im Boden.

Titel wie „Palomares“ oder „Zerrissene Landschaft“ für Bilder mit ähnlichen Löchern im Gelände weisen auf ein Unglück brisanter Art hin: 1966 kollidierte ein mit vier Wasserstoffbomben bestückter US-Bomber mit einem Tankflugzeug im Luftraum über Palomares, einem Ort in der Nähe von Schlotters spanischem Wohnort. Zwei Zünder der Bomben explodierten und verteilten mehrere Kilo hoch radioaktiven Plutoniums. Wegen der Kontamination der Landschaft entstand ein Sperrgebiet mit einem Versuchslabor über die Langzeitfolgen atomarer Verseuchung. Spanien erließ ein formelles Überflugsverbot für amerikanische Bomber, und es wurde untersucht, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. 1968 wurde die Nuklearbomber-Strategie der Vereinigten Staaten eingestellt. In seinem Abschlussbericht 1975 hielt das US-Verteidigungsministerium fest, dass der am Unfalltag herrschende Wind plutoniumhaltigen Staub aufgewirbelt habe und dass „das ganze Ausmaß der Verbreitung nie in Erfahrung zu bringen sein“ würde.

Vor diesem Hintergrund erhält das Gemälde Schlotters eine wahrhaft apokalyptische Dimension, und das helle Licht knapp über dem Horizont verwandelt sich von einem Hoffnungsstrahl in das unheilvolle Leuchten einer Nuklearexplosion, der Mensch und Natur schutzlos ausgeliefert sind.